Neoliberalismus ist Etikettenschwindel

Ein Gespräch mit Volkmar Taube

Volkmar Taube: Walter Oswalt, Sie waren als Autor und Aktivist schon früh an der ökologischen Protestbewegung in Deutschland beteiligt und gehörten zu den Grünen der ersten Stunde — engagiert im Protest gegen die Startbahn-West sowie als Mitglied der ersten Fraktion der Grünen im Frankfurter Stadtparlament. Doch während viele Ihrer politischen Weggefährten inzwischen weiterreichende politische Veränderungen ablehnen und sich mit einer Realpolitik ohne Fernziele begnügen, sehen Sie weiterhin die Notwendigkeit für tief greifende gesellschaftliche Veränderung. Warum?

Walter Oswalt: Mir wurde vor etwa zehn Jahren allmählich klar, dass es für mich als freien Journalisten und Aktivisten der Ökobewegung keinen Sinn macht, weiter und weiter neue Ökoskandale zu enthüllen, um auf kleine Veränderungen zu hoffen ...

Aber ihr habt doch einiges erreicht!

Ja, wir haben viele kleine Veränderungen durchgesetzt, aber keine großen, überlebensnotwendigen. Dass die Konzerne notwendige Reformpolitik verhindern, muss heute jeder zugeben, der vorurteilslos einen Blick auf mehr als 20 Jahre Bürgerbewegungen wirft! Dass sich viele meiner ehemaligen politischen Weggefährten resigniert mit so genannter Realpolitik abgefunden haben, hängt damit zusammen, dass sie keinen Weg sehen, weiterreichende Veränderungen durchzusetzen.

Das ist nun aber, wenn man so sagen darf, die Pointe Ihres neuen Buches: dass es entgegen allen anders lautenden Behauptungen solche Veränderungsperspektiven durchaus gibt — und dass sich die grundlegenden Veränderungen sogar in kleinen Schritten erreichen lassen.

Das war für mich die leitende Frage, als ich vor einem Jahrzehnt begonnen habe, den Ansatz der Machtminimierung theoretisch auszuarbeiten. Ich habe mich mit vielen anderen politisch engagierten Menschen gefragt: Wie kann man politisch handeln, ohne nach leeren Utopien zu greifen oder zum resignierten Vertreter des Status quo zu werden? Und dann habe ich verstanden, dass man, statt die Existenz der Konzerne als naturgegeben hinzunehmen, die Frage nach den Entstehungsbedingungen ökonomischer Macht nur konsequent verfolgen muss, um zu erkennen, dass es in der gesamten Rechtsordnung sehr viele politische Weichenstellungen gibt, an denen man drehen kann. Weichenstellungen, die darüber entscheiden, ob ökonomische Macht gefördert und legitimiert oder aufgelöst und verhindert wird.

Sie stellen die Systemfrage und wollen den Wechsel zu einer anderen Wirtschaftsordnung, das hat aber die politische Linke auch angestrebt und ist dabei im Utopismus gelandet.

Die politische Linke war in Bezug auf Wirtschaftsmacht immer ambivalent und unklar. Die einen liebäugelten mit der staatssozialistischen Tradition, in der Wirtschaftsmacht auf die Spitze getrieben wurde. Die anderen erkannten den autoritären Charakter des Staatssozialismus, blieben aber bis heute die Antwort auf die Frage schuldig, wie eine irgendwie "demokratische Wirtschaft" jenseits von sozialistischer Staatswirtschaft und kapitalistischer Marktwirtschaft funktionieren soll — ja, wie sie überhaupt erst mal gedacht werden kann.

Für Sie sind Begriffe wie "freier Markt" und "Wettbewerb" nicht negativ besetzt, im Gegenteil.

Das ist richtig. Ich gehe — und das ist ein wesentlicher Punkt meiner Argumentation — auf die Entwicklung des Liberalismus bis zu seinen revolutionären Anfängen zurück. Diese Sichtweise eröffnet gerade in der Auseinandersetzung um den so genannten Neoliberalismus eine neue Perspektive. Misst man nämlich die heutige Verwendung von "freier Markt", "freier Wettbewerb" an den Forderungen des ursprünglichen Liberalismus, entdeckt man, dass der Neoliberalismus in Wahrheit Etikettenschwindel ist.

Von diesem Etikettenschwindel, der ideologischen Vereinnahmung des radikalen Liberalismus, konnten Sie sich auch aus Ihrem familiären Umfeld heraus ein Bild machen: Ihr Großvater, der berühmte Ökonom Walter Eucken, hat sich mit seinen Konzepten zur Auflösung ökonomischer Machtkonzentrationen in der Entstehungsphase der Bundesrepublik kein Gehör verschaffen können. Gleichwohl hat die Geschichtsschreibung dies gezielt verschwiegen, indem sie bis heute so tut, als hätten Eucken und seine "Freiburger Schule" quasi die Blaupausen für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland geliefert.

Ja, diese Erfahrung hat mich geprägt. Die ideologische Vereinnahmung meines Großvaters durch Wirtschaftswissenschaften und Politik ist ein Lehrstück für die Manipulation des geistigen Erbes des Liberalismus durch den so genannten Neoliberalismus. Ich habe dies in meinem Essay "Die falschen Freunde der offenen Gesellschaft", dem Nachwort zu Walter Euckens "Wirtschaftsmacht und Wirtschaftsordnung" (Münster 2001), dokumentiert.

Sie verstehen sich als radikaler Liberaler. Welchen Stellenwert messen Sie politisch und philosophisch dem Freiheitsbegriff und dem Begriff der demokratischen Entscheidung bei?

Ich glaube, die einzige Rechtfertigung des staatlichen Machtmonopols besteht darin, das gleiche — ich betone — das gleiche Recht jedes Bürgers auf größtmögliche Freiheit zu ermöglichen. Der Staat verliert deshalb seine Legitimität, wenn er seine Macht, wie heute, missbraucht, um wirtschaftliche Machtkonzentrationen zu ermöglichen, die die wirtschaftliche, kulturelle und demokratische Freiheit der Bürger nachhaltig zerstören. Um die individuelle Freiheit, um die in der Verfassung garantierten Menschenrechte zu sichern, brauchen wir deshalb heute eine zweite liberale Revolution. Die Chance dafür besteht durchaus, wie ich in meinem Buch NO MONO aufzeige.

Ihre Thesen gehen z. T. auf Diskussionen im Internationalen Attac-Arbeitskreis Konzernentmachtung zurück ...

Ja, und wir hoffen, mit unserer Arbeit im Arbeitskreis in der globalisierungskritischen Öffentlichkeit eine grundlegende Debatte auszulösen. Wir sind zuversichtlich ( ... )